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Frank Hoffmann und Silke Flegel: „Fluchtpunkt NRW – Zeitzeugenberichte zur DDR-Geschichte“

  • Typ Publikationen
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Frank Hoffmann und Silke Flegel: "Fluchtpunkt NRW - Zeitzeugenberichte zur DDR-Geschichte", Berlin 2016

Rezension von Annabelle Ziegler, FSJ im politischen Leben bei der Bundesstiftung Aufarbeitung

In dem Sammelband "Fluchtpunkt NRW - Zeitzeugenberichte zur DDR-Geschichte" berichten 13 Zeitzeugen aus unterschiedlichen Zeitabschnitten der DDR. Gemeinsam ist fast allen, dass sie aufgrund ihrer Erfahrungen in der DDR den Entschluss gefasst hatten, sich zu widersetzen oder zu fliehen. Sie eint auch die Erfahrung, dass sie als politische Häftlinge inhaftiert oder zu Aufenthalten in psychatrischen Einrichtungen gezwungen wurden. Einige von ihnen wurden freigekauft. Ganz bewusst oder zufällig sind alle danach in NRW gelandet. In ihren Erzählungen schildern sie besonders prägnante Erlebnisse oder berichten von unterschiedlichen Episoden aus ihrem Leben. Die Erzählungen sind chronologisch aufgeführt: Sie reichen von den Inhaftierungen durch den sowjetischen Geheimdienst unmittelbar nach Kriegsende bis zu den Bedingungen politischer Haft in der DDR der 1950er bis 1980er Jahre. Der Sammelband zeigt auch auf, wie der Ablauf des Freikaufs meistens vonstattenging, mit Aufenthalt im Gefängnis in der früheren Karl-Marx-Stadt, der Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft und der anschließenden Busfahrt über die Grenze in die Bundesrepublik.

Der Sammelband ist eine durchweg gelungene Zusammenstellung von Zeitzeugenberichten, die dem Leser verschiedene Facetten des Unrechtsstaates aufzeigen. Gleichzeitig lebten sie zu ganz unterschiedlichen Zeiten in der SBZ und DDR und geben dadurch Auskunft über die politischen Hintergründe der Diktatur von 1947 bis 1989. Besonders interessant sind die Berichte von Zeitzeugen, deren Eltern freiwillig in die DDR übergesiedelt sind und dort anfangs ein recht gutes Leben hatten, weil die SED die Situation der Übersiedler für ihre Propaganda gegen den Westen nutzte. Deutlich wird in den Schilderungen aber auch, wie bei den Übersiedlern die Unzufriedenheit zunahm: So betraf die Propaganda gegen den Westen schließlich auch die eigene Familie, die in der Bundesrepublik lebte.  

Die Zeitzeugen schildern nicht nur ihre Erlebnisse, sondern reflektieren dabei auch, was sie erlebt und wie sie gehandelt haben. Dies macht dem Leser besonders deutlich, wie kritisch man sich diesem Thema annähern muss. Die Zeitzeugenberichte schaffen es durch ihre ehrliche und aufrichtige Art, dass der Leser die politischen Gegebenheiten und persönlichen Gefühle nachempfinden kann. Die Grausamkeit der SED-Diktatur wird auf diese Weise sehr deutlich. Dabei sind Berichte, wie der von Eva-Maria Neumann besonders eindrücklich. Die Geigerin und ihr Mann Rudolf Neumann wollten ihrer Tochter Maria Constanze ein Leben in einer freien Gesellschaft ermöglichen. Aber ihr Fluchtversuch im Kofferraum eines Autos im Februar 1977 flog auf. Eva-Maria Neumann wurde von Mann und Kind getrennt und inhaftiert. Ende 1978 wurden sie von der Bundesrepublik freigekauft. Ihre Tochter durfte erst Monate später nachkommen. Wegen einer Erkankung in der Haft konnte Eva-Maria Neumann nie wieder richtig Geige spielen. "Wenn heute einer behauptet, er hätte von der Stasi nichts gemerkt, dann soll er mal darüber nachdenken, ob er einen politischen Witz erzählt hat, wenn jemand dabei war, den er nicht kannte!"(S.177), argumentiert Neumann und macht damit die Omnipräsenz der Stasi deutlich.

Die Erzählungen sind jeweils ungefähr 20 Seiten lang, so dass das Buch abschnittsweise erschlossen werden kann. Die einzelnen Berichte sind auch für den Schulunterricht gut geeignet. Das Glossar am Ende des Buches hilft Schülern und Schülerinnen, sowie Menschen die sich neu mit dem Thema befassen, Begriffsunklarheiten aus dem Weg zu räumen und Abkürzungen zu entschlüsseln. Kritisch angemerkt werden kann, dass unter den 13 Zeitzeugen lediglich eine Frau zu Wort kommt. Positiv anzumerken ist der chronologische Aufbau der Berichte. Er zeigt die "Entwicklung" in den Haftbedingungen und die Entstehung des Freikaufs deutlich auf und macht es für den Leser einfacher, die Berichte in den historischen Kontext einzuordnen.

"Am Anfang des Projekts standen Enttäuschung und Empörung. Die ausgebreitete Welle einer nostalgischen Verklärung der DDR, die schon wenige Jahre nach der Friedlichen Revolution spürbar war, hatte um die Jahrtausendwende mit dem Konzept der "Ostalgie" ihren Kulminationspunkt erreicht." Frank Hoffmann führt damit den Ausgangspunkt für das Zeitzeugenprojekt auf, in dem Zeitzeugen aus Nordrhein-Westfalen mit dem Institut für Deutschlandforschung an der Ruhr-Universität Bochum und der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (NRW) seit 2008 zusammenarbeiten. Aus den vielen begleiteten Zeitzeugengesprächen mit Jugendlichen in Schulen entstand die Idee, die lebensgeschichtlichen Erzählungen in einem Buch zu veröffentlichen. "Fluchtpunkt NRW" kann als gelungenes Werk gesehen werden, welches deutlich macht, dass jenseits der Ostalgie eben doch Vieles schlecht war in der DDR. Es stellt einen wichtigen Beitrag für die historische Aufarbeitung der SED-Diktatur für die Generationen nach dem geteilten Deutschland dar. Das Buch ist absolut lohnenswert sowohl für LehrerInnen, SchülerInnen als auch Privatpersonen, die sich näher mit der Geschichte der DDR und im Besonderen mit den Hafterfahrungen befassen möchten.

Der Sammelband "Fluchtpunkt NRW Zeitzeugenberichte zur DDR-Geschichte" ist der dritte Band aus der Reihe "Deutschland in Europa Gesellschaft und Kultur". Er wurde von Silke Flegel und Frank Hoffmann herausgegeben und erschien 2016 in Berlin vom LIT Verlag. Der Band ist aus einem Zeitzeugenprojekt des Inistituts für Deutschlandforschung an der Ruhr-Universität Bochum und der Vereinigung der Stalinismus-Opfer (VOS) in Nordrhein-Westfalen entstanden. Gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.