Zeitzeuge

Dr. Angela Kunze-Beiküfner

Halberstadt, Sachsen-Anhalt
* 1966

Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete. (Horst Sindermann, Volkskammerpräsident der DDR)

Themen
  • Opposition/Bürgerrechtsbewegung
  • Kirche

Biografisches

1964 geboren in Potsdam und aufgewachsen in verschiedenen Pfarrhäusern in Sachsen-Anhalt (Alsleben, Stendal, Magdeburg, Naumburg/Saale)
1978 Verweigerung des Wehrkundeunterrichts, der in diesem Jahr verpflichtend für alle Schüler der 8. Klasse eingeführt wurde
1980 erste kurze Festnahme wegen der Verwendung des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“
1981 Abschluss der 10. Klasse mit Auszeichnung, keine Zulassung zum Abitur, Mitwirkung in christlichen Jugend- und Friedensgruppen
1984 Abschluss einer Fachschulausbildung zur Physiotherapeutin
1986 Clown im Zirkus Probst
ab Herbst 1986 freischaffend als Clown und Pantomimin in Berlin, Kontakt zu Oppositionsgruppen, mitverantwortlich für das tägliche Abendgebet in der Sophienkirche, viele Reisen in osteuropäische Nachbarländer zum Zweck der Vernetzung von (kirchlichen) Oppositionsgruppen, Vorbereitung ökumenischer Jugendtreffen für Taizé
1989 Initiatorin der Fastenaktion ab dem 4. Oktober in der Berliner Gethsemanekirche, Mitgründerin der Gruppierung Demokratischer Aufbruch, im November Wechsel zur Bewegung Demokratie Jetzt
ab 1990 Kolleg und Studium der Theologie an der Kirchlichen Hochschule Leipzig, am United Theological College in Bangalore/Indien und an der Universität Leipzig; Heirat und Geburt von drei Kindern
2000 Vikariat in Halberstadt, Ordination zur Pfarrerin
ab 2004 Dozentin am Pädagogisch-Theologischen Institut (PTI) in Drübeck, Lehraufträge an verschiedenen Universitäten und Hochschulen
2019 Hochschul- und Studierendenpfarrerin der Evangelischen Studierendengemeinde in Magdeburg

Kurzbeschreibung

Wenn es einen entscheidenden Tag für die Friedliche Revolution in der DDR gibt, dann ist das der 9. Oktober 1989. An diesem Tag, ich war 25 Jahre alt, saß ich schon den sechsten Tag fastend in der Berliner Gethsemanekirche. Es gab einen Haftbefehl für mich und ich rechnete mit dem Schlimmsten. Ich hatte am 3. Oktober einen Aufruf zum „Fasten als gewaltfreien Widerstand“ geschrieben und bin für zehn Tage in die Gethsemanekirche eingezogen, vor der sich schon seit dem 2. Oktober die Mahnwache für die zu Unrecht Inhaftierten befand. Tag und Nacht war ich nun in der Kirche, die immer offen war. Zunächst war ich allein, dann schlossen sich immer mehr Menschen meinem Aufruf an. Jeden Abend gab es ein Friedensgebet, zu dem Hunderte und dann auch Tausende in die Kirche strömten. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, und am Tag danach kam es in Berlin zu heftigen Ausschreitungen zwischen Protestierenden und der Polizei. Viele Demonstranten flüchteten vor der Polizei in die Kirche. Von meinem Platz in der Kirche aus habe ich alles beobachtet und Tagebuch geschrieben. Ich war auch zuständig für die Gesänge zu den Friedengebeten und wurde zur „Frau Dona nobis pacem“. Diesen Kanon stimmte ich nicht nur zum täglichen Friedensgebet an, sondern auch immer dann, wenn Panik und Aggression sich ausbreiteten – und später auch während der ersten großen Demonstrationen auf der Straße. In den letzten Tagen meiner Fastenaktion, der sich schließlich mehr als hundert Menschen angeschlossen hatten, drehten zwei kleine Filmteams der DDR-Filmhochschule heimlich einen Dokumentarfilm mit mir. Ausschnitte aus diesen Filmen und dem Fasten-Tagebuch sowie meine Erfahrungsberichte zu der Rolle der Kirchen im Rahmen der Oppositionsbewegungen in der DDR und in Osteuropa sowie die wunderbare Erfahrung des 9. Oktober 1989 stehen im Zentrum meines Zeitzeugenberichts.

Berichte

10 Tage im Oktober. Dokumentarfilm, Regie: Thomas Frick, Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf", 1989.
Makulatur 7/10/1989. Dokumentarfilm, Regie: Kerstin Süske, Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf", 1989.
The Secret Life of the Berlin Wall. Dokumentarfilm, Regie: Kevin Sim, BBC, 2009.